YULIYA MÜLLER
ETHICS-ART-DESIGN-EDUCATION
Was ist Ethik? Was ist Moral? Und wie kann uns Ethik helfen, moralische Probleme zu lösen?
In jedem von uns lebt ein stiller Kompass – unsichtbar, doch wirksam, besonders in den Momenten des inneren Zögerns: wenn wir helfen oder wegsehen, schweigen oder sprechen, handeln oder abwarten. Diesen inneren Kompass nennen wir Moral – ein Geflecht aus Werten und Regeln, gewoben aus Kindheitserinnerungen, familiären Lehren, religiösen Prägungen und den unausgesprochenen Erwartungen unserer Gemeinschaft. Moral ist das, was wir „fühlen“: ein spontanes Wissen um das Gute und das Böse, das uns im Alltag leitet, oft unbewusst, doch mit erstaunlicher Kraft.
Und doch – so vertraut sie uns auch erscheint – ist Moral nicht unfehlbar. Sie kann irren, täuschen, sogar verletzen. Was in einem Land als tugendhaft gilt, erscheint in einem anderen als Unrecht. Was gestern noch als selbstverständlich galt, kann heute in Frage stehen. Hier betritt die Ethik die Bühne – mit prüfendem Blick und ruhiger Stimme.
Die Ethik hingegen fragt nicht nur was, sondern vor allem warum. Sie ist die Kunst des Denkens über das Richtige – ein Werkzeug der Vernunft, das sich nicht mit blossen Antworten begnügt. Wo die Moral spontan urteilt, zögert die Ethik – wägt ab, stellt infrage, sucht nach Prinzipien, die nicht nur uns, sondern auch dem anderen gerecht werden. Sie beleuchtet die Schattenseiten der Moral, deckt Widersprüche auf und schafft Raum für neue Perspektiven. Wo Moral oft aus Tradition schöpft, will Ethik verstehen, prüfen, begründen.
Seit Jahrtausenden ringen Philosophen mit dieser Frage – wie lässt sich das Gute begründen, jenseits blosser Meinung? Aristoteles suchte das gute Leben in der Tugend des Masses, im Streben nach einem Gleichgewicht der Kräfte. Kant forderte den kategorischen Imperativ – ein Gesetz der Vernunft, das in jedem Menschen wirksam sein sollte, unabhängig von Neigung oder Nutzen. Der Utilitarismus hingegen fragte nüchtern: Was bringt das grösste Glück für die grösste Zahl?
Jede ethische Theorie ist der Versuch, Ordnung in das moralische Chaos zu bringen. Doch keine vermag die letzte Antwort zu geben. Ethik lebt vom Zweifel, vom offenen Denken, vom Dialog. Sie ist weniger ein Regelwerk als eine Haltung – ein bewusster Umgang mit der Unsicherheit des moralischen Handelns in einer Welt, die keine einfachen Antworten mehr kennt.
Kunst & Ethik
Bildende Kunst und Ethik sind traditionell eng miteinander verflochten. Künstlerische Ausdrucksformen werfen häufig moralische Fragen auf, spiegeln gesellschaftliche Werte wider oder fordern diese bewusst heraus. Gleichzeitig kann Kunst als Mittel dienen, ethische Konflikte sichtbar zu machen, Empathie zu fördern und zum kritischen Nachdenken anzuregen. In diesem Spannungsfeld entsteht ein fruchtbarer Dialog, der sowohl ästhetische als auch moralische Dimensionen berührt.
Normative Theorien
Der Utilitarismus bildet die grundlegende Form des Konsequentialismus. Gemäss den Gründern des Utilitarismus bestimmt sich die Richtigkeit oder Falschheit unserer Handlungen einzig und allein nach dem daraus entstehenden Mass an Lust und dem verursachten Leid – wobei die Lust und das Leid aller empfindungsfähigen Lebewesen gleich gewichtet werden. Eine Handlung ist dann moralisch geboten, wenn sie im Vergleich zu allen Alternativen die grösstmögliche Lust erzeugt und das verursachte Leid minimiert.
Der Konsequentialismus stellt die einflussreichste Theoriegruppe in der normativen Ethik dar. Nach dieser Auffassung hängt die moralische Bewertung einer Handlung ausschliesslich von der Qualität ihrer Folgen ab. Folglich muss jede Form des Konsequentialismus zunächst klären, wie diese Folgen bewertet werden können und wie deren Wert bestimmt, ob eine Handlung geboten, verboten oder erlaubt ist.
Der Naturalistische Fehlschluss
Fehlschlüsse beruhen auf einer logischen Fehlerhaftigkeit bei der Ableitung einer Aussage aus einer anderen. Der naturalistische Fehlschluss, wie er in der Tradition des Ethikers George Edward Moore (1873–1958) beschrieben wird, liegt darin, dass aus einer faktischen Beschreibung fälschlicherweise geschlossen wird, dass dieser Zustand auch moralisch wünschenswert oder normativ geboten sei. Die Lehre vom naturalistischen Fehlschluss hilft uns, in der Analyse ethischer Argumente stillschweigend vorausgesetzte normative Annahmen zu identifizieren, die gegebenenfalls weiter untermauert oder kritisch hinterfragt werden können.
Kantische Deontologie
Die Moraltheorie Immanuel Kants (1724–1804) wird als ein zentraler Kontrapunkt zum konsequentialistischen Denken betrachtet: Anstatt primär die Folgen einer Handlung zu bewerten, richtet sie ihren Fokus auf die Handlung selbst und fragt, ob diese rationalerweise gedacht und gewollt werden könnte. Für Kant stellt unmoralisches Handeln ein selbstwidersprüchliches und irrationales Verhalten dar, das zwar durch unsere Neigungen erklärt, aber nicht gerechtfertigt werden kann. Als oberstes moralisches Prinzip, das Pflichten wie das Verbot von Betrug und Tötung begründen soll, fungiert der kategorische Imperativ: "Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde."
William David Ross (1877-1971) entwickelte eine eigenständige, pluralistische Form der Deontologie, die sich sowohl gegen den Utilitarismus als auch gegen Kants Moralphilosophie richtete. Ross kritisierte beide Ansätze als zu eindimensional, da er davon ausging, dass unser Handeln häufig von mehreren Pflichten gleichzeitig geleitet wird.Ein Beispiel: Stellen Sie sich vor, Sie haben sich gegenüber einem engen Freund verpflichtet, ihm bei der Organisation einer wichtigen Veranstaltung zu helfen. Gleichzeitig bittet ein Familienmitglied in einer akuten Notsituation um Ihre Unterstützung. In einem solchen Fall gilt es abzuwägen, welche Pflicht – die gegenüber dem Freund oder die familiäre Verantwortung – in der konkreten Situation überwiegt.
Hobbe'scher Kontraktualismus
Der Hobbe'sche Kontraktualismus, oft als "Contractarianism" bezeichnet, hat seinen Ursprung in der politischen Philosophie des englischen Denkers Thomas Hobbes (1588-1679). Laut dieser Moraltheorie finden selbst eigennützig handelnde Personen einen Grund, moralisch zu agieren: Eine streng rationale Abwägung der eigenen Interessen führt zum Schluss, dass es – angesichts unserer Verletzlichkeit und der Vorteile, die sich aus der allgemeinen Befolgung moralischer Regeln (wie dem Diebstahl- oder Tötungsverbot) ergeben – vorteilhafter ist, sich an diese Regeln zu halten. Insgesamt ist das Leben angenehmer, wenn man – sowohl individuell als auch kollektiv – sein Handeln gewissen Einschränkungen unterwirft, als wenn man sich uneingeschränkt alle Freiheiten nimmt.
John Rawls zgehört zu den bedeutendsten Vertretern einer kantisch inspirierten Vertragstheorie der Moral. Seine wegweisende Theorie der Gerechtigkeit gilt als zentraler Beitrag zur Ethik des 20. Jahrhunderts. Darin entwirft Rawls ein Modell für eine gerechte Gesellschaft, die sowohl Gleichheit als auch Freiheit in Einklang bringt. Diese Gesellschaft ist dadurch gekennzeichnet, dass sie jedem Einzelnen ein Höchstmass an individuellen Freiheiten gewährt, solange diese mit den gleichen Freiheiten aller anderen vereinbar sind. Darüber hinaus sind soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten nur dann gerechtfertigt, wenn sie mit gleichen Chancen auf Zugang zu Ämtern und Positionen verbunden sind und zugleich jenen den grössten Nutzen bringen, die in der Gesellschaft am schlechtesten gestellt sind.
Die Tugendethik ist ein ethischer Ansatz, der sich darauf konzentriert, welche Charaktereigenschaften oder Tugenden ein Mensch entwickeln sollte, um ein gutes und erfülltes Leben zu führen. Statt blosses Handeln nach Regeln oder die Konsequenzen von Handlungen zu bewerten, fragt die Tugendethik: „Wie soll ich sein?“ anstatt „Was soll ich tun?“. Der Fokus liegt also auf dem moralischen Charakter einer Person und deren langfristiger ethischer Entwicklung.
Konfuzius (551–479 v. Chr.) hatte mit seiner Lehre den wahren und guten Weg zu einem besseren Zusammenleben der Menschen aufzeigen wollen. Er hatte betont, dass es zur Sittlichkeit gehöre, fünf Dinge auf der ganzen Welt zu verwirklichen: Würde, Weitherzigkeit, Wahrhaftigkeit, Eifer und Gültigkeit (XVII, 6). Sittlichkeit sei für die Menschen von noch grösserer Bedeutung als Wasser und Feuer, da er zwar Menschen gesehen habe, die ins Wasser oder Feuer getreten und daran gestorben seien, jedoch niemanden, der an der Sittlichkeit zugrunde gegangen sei (XV, 35). Das Wesen der Sittlichkeit liege, so Konfuzius, in der Menschenliebe, das Wesen der Weisheit in der Menschenkenntnis (XII, 22).
Aristoteles (384–322 v. Chr.) ist der wichtigste klassische Vertreter der Tugendethik. In seiner „Nikomachischen Ethik“ beschreibt er Tugenden als Mittellagen zwischen Extremen (z. B. Mut als Mitte zwischen Feigheit und Tollkühnheit). Sein Ziel ist es, ein gutes, erfülltes und gelungenes Leben zu führen, was er als Eudaimonia bezeichnet.
Thomas von Aquin (1225–1274) kombinierte aristotelische Tugendethik mit christlicher Theologie. Er betonte göttliche Tugenden (Glaube, Hoffnung, Liebe) zusätzlich zu den klassischen Kardinaltugenden (Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Mäsigung).
Philippa Foot (1920–2010) ist begründerin der modernen Tugendethik im 20. Jahrhundert. Tugenden sind für sie Eigenschaften, die das menschliche Leben verbessern.
Martha Nussbaum (1947–) verbindet Tugendethik mit Fähigkeitentheorie (Capability Approach). Sie setzt den Fokus auf individuelle Entfaltung und Gerechtigkeit durch Förderung grundlegender menschlicher Fähigkeiten.
Gedankenexperimente, Argumente und Fälle der angewandten Ethik
FILOSOFIX - Philosophie animiert