YULIYA MÜLLER
ETHICS-ART-DESIGN-EDUCATION
Wer kümmert sich um die Kümmernden? Die Bedeutung der ärztlichen Fürsorgepflicht gegenüber Angehörigen von Alzheimerpatienten
11.06.2024
Analyse des Falls: «Fürsorgepflicht gegenüber den Angehörigen?» anhand des Care-ethischen Entscheidungsmodells von Joan Tronto.
Abstract
Für die Fallanalyse verwende ich im Folgenden den Fall «Fürsorgepflicht gegenüber Angehörigen?» aus Gitlin, L. N. & Hodgson, N. A. (2016). Who Should Assess the Needs of and Care for a Dementia Patient’s Caregiver? AMA Journal of Ethics, 18(12), 1171-1181. Ich werde diesen Fall anhand des Care-ethischen Entscheidungsmodells von Joan Tronto analysieren.
Einleitung
Am Anfang war alles ganz harmlos: eine verpasste Ausfahrt auf der Autobahn, ein verwunderter Blick beim Treffen mit dem alten Nachbarn, ein Satz Autoschlüssel im Kühlschrank. Susanne Lobsiger hielt es zunächst für «normales Älterwerden». Doch als Herbert anrief und sagte, er habe sich auf dem Weg zu seiner Schwester verfahren, wusste sie, dass etwas nicht stimmte. Mehrere Untersuchungen schlossen eine Reihe anderer Diagnosen aus, und schließlich wurde bei Herbert Alzheimer diagnostiziert. Das Leben von Susanne und Herbert Lobsiger war bald mit endlosen Arztterminen ausgefüllt, so dass immer weniger Zeit für die Enkelkinder und Freunde blieb. Jeden Morgen nach dem Frühstück zog Susanne Herbert an und setzte ihn in den Sessel. Sie hatte kaum noch Zeit und Energie, sich zu duschen und zu kämmen. Vor Herberts Diagnose wäre es undenkbar gewesen, dass sie ungeduscht und ungekämmt das Haus verlässt. “Wer hätte gedacht, dass unsere ‘goldenen Jahre’ so schnell vorbei sein würden?”, fragte sich Susanne, während sie die Medikamentenschachteln auf dem Küchentisch sortierte. Alles war so kompliziert geworden. Bei Herberts letztem Termin bei Frau Dr. Pereira, der Neurologin, untersuchte diese Herberts Gedächtnis und stellte fest, dass die Ergebnisse des Mini Mental Status Exam (MMSE) jenen des letzten Termins entsprachen. Sie war sehr zufrieden und optimistisch, dass sie die richtige Dosierung der Medikamente gefunden hatte. Aber sie hatte das Gefühl, dass Susanne einfach nicht wie sonst war. Sie war bei allen Terminen von Herbert dabei, so dass die Neurologin das Gefühl hatte, Susanne fast so gut zu kennen wie Herbert. Im Laufe des letzten Jahres waren die tadellos aufeinander abgestimmten Outfits und die perfekt frisierten Haare verschwunden. Sie sah erschöpft und nervös aus, wie jemand, der ständig am Limit ist. Dr. Pereira wollte sie fragen, ob es ihr gut gehe, aber sie wollte ihr nicht zu nahe treten. “Sie ist ja nicht wirklich meine Patientin”, sagte sie sich. Aber es beschäftigte sie sehr, sie so verändert zu sehen.
Nach der Untersuchung durch die Neurologin rutschte Susanne nervös auf dem Stuhl hin und her. In Gedanken bereitete sie sich auf einen weiteren anstrengenden Abend vor, an dem sie für Herbert das Abendessen kochen und in mundgerechte Stücke schneiden würde. Danach würde sie ihn für die Nacht fertig machen und neben einem Mann schlafen, der ihr immer fremder wurde. Dr. Pereira wollte fragen: “Bevor Sie gehen, Frau Lobsiger, wie geht es Ihnen?” Aber sie zögerte, die Frage zu stellen.
Wesentliche Fakten
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Diagnose Alzheimer bei Herbert Lobsiger (Ehemann).
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Die Krankheit ist bereits fortgeschritten. Herbert kann den Alltag im eigenen Haushalt nicht mehr alleine bewältigen.
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Die richtige Dosierung der Medikamente wurde gefunden. Der Mini Mental Status von Herbert ist seit dem letzten Termin unverändert.
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Der Patient lebt zu Hause und wird von seiner Ehefrau betreut.
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Susanne Lobsiger (Ehefrau) pflegt ihren Mann alleine.
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Ihr Bedürfnis nach sozialen Kontakten und Erholung wird nicht befriedigt.
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Die Neurologin begleitet den an Alzheimer erkrankten Herbert seit mehreren Jahren. Sie kennt Susanne ebenso gut wie Herbert.
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Susanne, die jahrelang ein tadelloses Aussehen hatte, wirkt in letzter Zeit nervös, erschöpft und ungepflegt.
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Das Erscheinungsbild des Patienten ist unauffällig. Er scheint zu Hause gut versorgt zu sein.
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Das Dilemma der Neurologin Frau Dr. Pereira
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Susanne ist nicht ihre Patientin.
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Gefühl der moralischen Verpflichtung, sich (auch) um Susanne zu kümmern.
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Soll sie aktiv das Gespräch mit der Frau ihres Patienten suchen?
Ethische Problemfelder
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Autonomie (des Patienten und der Angehörigen)
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Vertrauen (zwischen Ärztin-Patient-Angehöriger)
Vorgangsempfehlung
Um zu beurteilen, ob es in der gegebenen Situation angemessen ist, ein klärendes Gespräch mit der Ehefrau des Patienten zu führen, kann vorab eine Intervision mit der Dilemma Methode durchgeführt werden.
DILEMMA-METHODE (Eine Methode im Rahmen einer Fallbesprechung der moral case deliberation)
Schritt 1: Einführung
Schritt 2: Das Dilemma benennen
Schritt 3: Erläutern [Erhellen] und sich einfühlen
Schritt 4: Werte und Normen benennen
Schritt 5: Alternativen suchen
Schritt 6: Individuelles Abwägen des Dilemmas
Schritt 7: Übereinstimmungen und Differenzen
Schritt 8: Evaluation der Besprechung
Während der Intervision werden die medizinischen Ziele im Auge behalten. Zu den Aufgaben des Arztes und der Ärztin gehört es,
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den Beruf sorgfältig und gewissenhaft sowie unter persönlicher Integrität und beruflicher Kompetenz auszuüben.
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die Mittel in Prävention, Diagnostik und Therapie sowie Rehabilitation zum Wohle der Patientinnen und Patienten einzusetzen.
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eine Verpflichtung, sich ständig fortzubilden (so im Übrigen auch das staatliche Recht seit Anfang 2018: Art. 40 lit. b MedBG).
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keine medizinischen Handlungen und Stellungnahmen vornehmen, die mit dem eigenen Gewissen nicht vereinbar sind (Standesordnung der FMH, 1997, Art. 3).
Neben anderen Punkten wird hier auch die Fortbildungspflicht genannt. Eine Fachärztin, die regelmässig Alzheimer-Patienten behandelt, muss nicht nur über den Verlauf und die Behandlungsmethoden Bescheid wissen. Um eine umfassende Behandlung und Beratung anbieten zu können, muss sie sich auch über rechtliche und soziale Aspekte sowie über Angebote für Angehörige informieren.
Warum die pflegenden Angehörigen von Alzheimer-Patienten nicht vernachlässigt werden dürfen, wird im folgenden Abschnitt erläutert.
Was ist im gegebenen Fall die richtige Haltung?
Klärung des Dilemmas
Wem gegenüber ist die Ärztin in diesem Fall zur Wahrung ihrer Autonomie und zur Aufrechterhaltung des Vertrauensverhältnisses verpflichtet? Üblicherweise wird von der Entscheidungsautonomie ausgegangen. Pierre-Yves Meyer unterscheidet jedoch zwischen zwei Autonomiekonzepten, der Entscheidungsautonomie und der Autonomie des Selbst. Er stellt die Frage in den Mittelpunkt, unter welchen Bedingungen Autonomie aus philosophischer Sicht relational verstanden werden kann. Meyer betont, dass ein relationales Verständnis von Autonomie aus philosophischer Sicht keineswegs selbstverständlich ist. Autonomie ist eine individuelle Fähigkeit, die sich nicht aus einer Beziehung ergibt. Relationale Autonomie wird aber erst durch das Vorhandensein eines Gegenübers möglich (SAMW, S. 52).
Aufgrund der besonderen Krankheits- und Familiensituation des Patienten handelt es sich hier nicht um eine Arzt-Patient-Beziehung, sondern um eine Arzt-Patient-Angehörigen-Beziehung. Indem Herbert nämlich Susanne zu den Arztbesuchen mitnimmt bzw. ihre Begleitung duldet, folgt daraus auch eine (rechtserhebliche) Einwilligung in die Aufhebung der beruflichen Schweigepflicht der Ärztin gegenüber Susanne. Diese fungiert mithin als unverzichtbares Bindeglied in der Beziehung zwischen Ärztin und Patient und kümmert sich um die Bedürfnisse ihres Mannes. Wenn es ihr schlecht geht, wird indirekt auch die Qualität der Versorgung des Patienten sinken. Umso wichtiger ist es, dass die betreuende Ärztin des Alzheimer-Patienten, der erfahrungsgemäss im Verlauf der Krankheit urteilsunfähig wird, weshalb sich denn ein - noch in urteilsfähigem Zustand zu errichtender - Vorsorgeauftrag zugunsten (vertrauenswürdiger) Angehöriger sehr anbietet, eine gute Beziehung sowohl zum Patienten als auch zu den Angehörigen pflegt. Mit diesem Erfahrungswissen soll das Gesundheitspersonal von Anfang an versuchen, die (subjektiven) Präferenzen und Wertvorstellungen der betroffenen Patienten herauszufinden, um später deren Entscheidungen zu individualisieren. Auch die Möglichkeit einer Änderung der Einstellung des Patienten im Laufe der Zeit sollte in Betracht gezogen werden. Die Betroffenen sollen in die Lage versetzt werden, sich an den Entscheidungen zu beteiligen. Für betroffene Angehörige soll das Gleiche gelten. «Die Forderung nach Partizipation beschränkt sich nicht in allen Fällen auf die erkrankte Person. Sie kann auch Familie, Angehörige und Bezugspersonen einschliessen, die von der Entscheidung direkt (als rechtliche Stellvertretung der erkrankten Person) oder von deren Folgen betroffen sind. Die Rolle der Drittpersonen ist dabei differenziert zu betrachten. Diese Gruppe kann nicht nur eine Ressource für den Patienten darstellen, sondern auch eigene Bedürfnisse und Interessen verfolgen, die allenfalls die Patientenautonomie behindern können.» (SAMW, S. 58)
Aus ethischer Sicht ist die behandelnde Neurologin aufgrund ihrer Beziehung sowohl zum Alzheimer-Patienten als auch dessen Ehefrau gleichermassen verpflichtet, die Autonomie ihres Patienten wie auch seiner Ehefrau zu respektieren und Verantwortung für beide zu übernehmen. Wenn sie trotz erkannter Überforderungsanzeichen nicht handelt, riskiert sie eher, das Vertrauen der Angehörigen und des Patienten zu verlieren, als wenn sie sich aktiv und einfühlsam mit der Situation auseinandersetzt. Nach der Klärung der Verantwortung der Ärztin kommt das Care-ethische Entscheidungsmodell zur Anwendung.
Das Care-ethische Entscheidungsmodell von Joan Tronto
Was ist im gegebenen Fall die richtige Haltung?
CARING ABOUT
Phase: Sich um jemanden Sorgen machen
Element: Haltung der inneren Aufmerksamkeit
Frage: Was sind die Bedürfnisse der PatientIn?
CARING FOR
Phase: Sich um jemanden kümmern
Element: Haltung der Verantwortlichkeit
Frage: Was sollte ich aufgrund meiner Verantwortung bezüglich der PatientIn tun?
CARE GIVING
Phase: Die effektive Ausführung durch Professionelle
Element: Haltung der Professionalität
Frage: Was tue ich, was ist meine Aktion in Reaktion auf die Bedürfnisse der PatientIn?
CARE RICEIVING
Phase: Die Antwort derjenigen, die Zuwendung erfahren
Element: Haltung der Authentizität in Bezug auf die Deckung von Bedürfnissen
Frage: Decke ich die Bedürfnisse der PatientIn?
Entscheidungsfindung anhand der vier Dimensionen von Care nach Tronto
CARING ABOUT
Der Ärztin fallen Veränderungen im Aussehen und Verhalten der Ehefrau des Patienten auf. Sie macht sich Sorgen um den Gesundheitszustand der Angehörigen.
Frage: Was sind die Bedürfnisse des Patienten und der Angehörigen?
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Was fehlt der Frau des Patienten?
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Warum hat sie sich so verändert?
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Warum sieht sie erschöpft aus?
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Wünscht sie sich Entlastung von der Pflege?
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Sehnt sie sich nach eigenen Freiräumen?
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Hat sie ein schlechtes Gewissen, weil sie sich ihrem Mann nicht mehr verbunden fühlt?
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Braucht sie psychologische Hilfe?
CARING FOR
Die Ärztin sucht aktiv das Gespräch mit der Ehefrau des Patienten. Sie erkundigt sich nach ihren Bedürfnissen und ihrem Wohlbefinden. Sie entscheidet situationsgerecht über das weitere Vorgehen.
Frage: Was sollte ich aufgrund meiner Verantwortung bezüglich des Patienten und der Angehörigen tun?
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Information der Ehefrau über Entlastungsangebote für Angehörige von Alzheimer-Patienten wie Spitex, Spitex privée, Pro Senectute, Entlastungsdienst Schweiz, Rotes Kreuz
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Information über Angebote für Menschen mit Demenz wie Alzheimer-Café, Alzheimer-Ferien, Gruppenaktivitäten
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Abklärung der Leistungen der Krankenpflegeversicherung des Patienten
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Vermittlung an Sozialberatung, Unterstützungfonds Alzheimer Schweiz, Inclusion Handicap
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Information über Selbsthilfegruppen in der Umgebung
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Information über psychologische Beratung
CARE GIVING
Mit dem Einverständnis des Patienten und seiner Angehörigen kontaktiert die Ärztin die in ihren Zuständigkeitsbereich fallenden Zweigstellen.
Frage: Was tue ich? Was ist meine Aktion in Reaktion auf die Bedürfnisse des Patienten und der Angehörigen?
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Berücksichtigung von Wunsch und Willen des Patienten
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Berücksichtigung von Wunsch und Willen der Angehörigen
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Klärung der Kostenübernahme durch Versicherungen oder Unterstützungsfonds
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Überweisung zu Anbietern von Entlastungsangeboten
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Ggf. Überweisung der Angehörigen an den Hausarzt
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Ggf. Vermittlung der Angehörigen in Psychotherapie
CARE RECEIVING
Die Ärztin fragt die Patientin nach der Wirksamkeit der ergriffenen Massnahmen und beobachtet die Veränderungen.
Frage: Decke ich die Bedürfnisse der Patientin?
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Ein weiteres Beratungsgespräch mit den Angehörigen, um die Situation zu beurteilen und eventuell weitere Schritte einzuleiten, erscheint regelmässig sinnvoll.
Handlungsempfehlung
Wie der vorliegende Fall zeigt, kann es in bestimmten Situationen bzw. unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Vorkenntnisse sowie beruflichen und persönlichen Erfahrungen des medizinischen Personals vorteilhaft sein, mehrere Methoden und Modelle gleichzeitig oder nacheinander anzuwenden, um ein optimales Betreuungsresultat zu erzielen.
Literaturverzeichnis
Alzheimer Schweiz (2024): «Angebote» https://www.alzheimer-schweiz.ch/de/angebote Letzter Zugriff: 03.06.2024
Deutsche Alzheimer Gesellschaft DAlzG (2024): «Aktuelle Empfehlungen zu ethischen Fragestellungen.» https://www.deutsche-alzheimer.de/mit-demenz-leben/ethische-fragestellungen Letzter Zugriff: 03.06.2024
FMH (1997): «Standesordnung der FMH.» Art. 2-3
https://www.fmh.ch/files/pdf30/standesordnung---de---2024-04.pdf
Letzter Zugriff: 04.06.2024
Monteverde, Settimio (23.05.2024): «Care-Ethik» In: ASAE Modul 7: Klinische Ethik und Pflegeethik.
Sammlung Analyseinstrumente (2024): «Dilemma Methode. Eine Methode im Rahmen einer Fallbesprechung der moral case deliberation.» In: ASAE Modul 7: Klinische und Pflegeethik
Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften SAMW (2016): «Zwischen Selbstbestimmung und Paternalismus: die Autonomie des Selbst» In: «Autonomie und Beziehung. Selbstbestimmung braucht das Gegenüber» Bericht zur Tagung vom 7. Juli 2016 des Veranstaltungszyklus «Autonomie in der Medizin» Swiss Academies Communications 11 (12). S. 50-58 https://www.samw.ch/de/Ethik/Themen-A-bis-Z/Autonomie-in-der-Medizin.html Letzter Zugriff: 03.06.2024